Ein Alltag in Gunsleben im Jahr 1948

 

Ein Aufsatz von Erika Raudszus, geb. Buchholz

31. Januar 1948

„Rrrrrrrr……!“ Mit diesen lieblichen Lauten beginnt wohl für die meisten Menschen des Tages Last und Mühe – teils früher, teils später. Wer wie ich jeden Morgen auf den Zug um 6 Uhr angewiesen ist, muss jetzt im Winter schon bei Mond- und Sternenschein sein warmes Nest verlassen. Und wenn er dann durch das noch ruhig schlummernde Dorf geht, denkt er mit einem Neidgefühl an die, die jetzt noch in süßen Träumen liegen können. Aber so ruhig, wie es scheint, sind die Straßen gar nicht mehr. Noch während ich in aller Ruhe frühstücke, höre ich die ersten übereifrigen Reisenden zum Bahnhof gehen. Das sind bestimmt  keine „Berufsfahrer“ – die überholen mich meist immer erst unterwegs.

 

Auf dem Bahnhof ist jeden Morgen reger Betrieb – das Grenzdorf Gunsleben ist im Laufe der Besatzungszeit  nur allzu bekannt geworden. Da sind sie alle, die in der Nacht oder am vergangenen Tage über die Grenze kamen. Sie sitzen oder liegen auf ihrem Gepäck oder stehen herum – jeden Morgen das gleiche Bild. Eine lange Schlange drängt sich am Fahrkartenschalter – Menschen, die nur zu Besorgungen in die Kreisstadt fahren, „Reiselustige“ aus dem Dorf, deren Ziele schon weiter entfernt liegen – und eben die Grenzgänger. Vom alten Mütterchen, das seine Kinder „drüben“ besucht hat, bis zu den verhassten Schiebern und „Heringsbändigern“, die mit ihren prall gefüllten Rucksäcken die lieblichsten Düfte verbreiten. Wehe, wenn sich einer von ihnen in den Wagen für „Zeitkarten und Berufsverkehr“ verirrt! Ergötzliche Dialoge gibt’s bei solchen Gelegenheiten oft zu hören, die manchmal sogar in Tätlichkeiten ausarten. Die Stimmung der Reisenden ist stets geladen – beim kleinsten Anstoß kommt es zur Entladung. Unbeschreiblich war daher auch die Explosion, die vor ein paar Tagen der Eröffnung des Schalterbeamten folgte: dass mit der Abfahrt des Zuges wegen eines Kesselschadens nicht vor 11 Uhr zu rechnen sei. Auch wir Schüler und Schülerinnen waren nicht gerade erbaut. Dann fügten wir uns in unser Schicksal, umsonst um 5 Uhr aufgestanden zu sein und machten uns wieder auf den Heimweg durch das nun allmählich erwachende Dorf.

 

Auf den Höfen und in den Ställen brennt noch Licht, bei dessen Schein das hungrig muhende, blökende, meckernde, wiehernde oder gackernde Vieh gefüttert wird. Kurz vor unserem Haus überholt mich der Milchwagen der Molkerei aus dem Nachbardorf, also kann ich gleich das Viertelliter von diesem kostbaren Nass für meinen kleinen Bruder holen, der sich zuhause schon durch energisches „Muttiiiiiiii“-Rufen gemeldet hat.

 

Jetzt lässt das Leben draußen etwas nach – für die in Gunsleben tätigen Dorfbewohner ist Mittagpause. Schlechter haben es die, deren Tätigkeitsfeld in Oschersleben liegt und die erst mit dem Mittagszug kommen können, den ich kurz nach 14 Uhr pfeifen höre. Bald darauf bollert ein Handwagen die Straße hinauf: Frau Horneffer, die Posthalterin, hat ihre von vielen so sehnlich erwartete Fracht von der Bahn geholt. Auch ich gehöre sehr oft zu diesen „vielen“ und freue mich schon auf den Weg zur Post, der gegen 15.30 Uhr auf dem Tagesprogramm steht. Am Postschalter stehen schon mehrere erwartungsvoll  gleich mir, um ihre Päckchen und Briefe, die frohen oder traurigen Nachrichten in Empfang zu nehmen. Als ich komme, liegt gerade eitel Freude bzw. Mitfreude auf allen Gesichtern – untermischt mit so etwas wie Neid: eine junge Frau hat soeben die Aufforderung bekommen, sich eine CARE-Paket aus Magdeburg abzuholen, das ihr ein sagenhafter Onkel aus Amerika schickte. Das ist freilich Grund zur Freude und zum Neid, besonders, wenn man, wie ich heute, weder eine Karte noch einen Brief, noch nicht einmal eine Zeitung bekommen hat.

Auf dem Rückweg tönt helles Klingeln an mein Ohr: Fritze Schünemann, der Ausrufer, verkündet den Dorfbewohnern, die rings an Fenstern und Türen erscheinen, mit weithin schallender Stimme eine Reihe von Verordnungen und Bekanntmachungen. Die einzige für uns persönlich bedeutungsvolle ist, dass es morgen Kohlen geben soll. Sie wird mit erleichtertem Aufseufzen entgegengenommen, weil dann die Feuerungsnot für einige Zeit erst einmal wieder gebannt ist. Viele greifen auch hier in diesem  Jahr wieder zur Selbsthilfe. Eben gerade ziehen eine Frau und ein Junge keuchend einen mäßig dicken Baumstamm die hier leicht ansteigende Straße hinauf. Zwei kleinere Mädchen mit einem Handwagen voll Reisig folgen. Wir werden wohl auch bald wieder an eine solche Holzaktion denken müssen. Nur wann?

 

Heute ist schon wieder der letzte Tag der Woche – Sonnabend. Auch wer es nicht wüsste, würde es an dem besonderen Eifer merken, mit dem die Steintritte vor den Häusern gescheuert und die Straßen gefegt werden. Merken würde man es auch an dem verlockenden Kuchenduft, der mir entgegen schlägt, als ich schnell noch ein Brot vom Bäcker hole. Ein volles Kuchenblech über dem anderen türmt sich in den Gestellen, der Boden ist bedeckt mit Kasten-, Spring- und Napfkuchenformen und Meister Burghardt hat alle Hände voll zu tun. Gilt es doch, noch vor der Stromsperre fertig zu werden. Auch ich beeile mich, um nach Hause zu kommen, um die Stunde ohne Licht zu einem kleinen Schläfchen zu nutzen. Im Einschlafen höre ich gerade noch die Klänge des Abendläutens.

 

Ein letztes kleines Restchen, das sich aus einem idyllischen Dorfleben in die raue Wirklichkeit hinüber gerettet hat. Wirklich Feierabend kann jetzt aber kaum schon einer machen. Wirklich Feierabend ist erst, wenn die Schritte der Menschen, die mit dem Abendzug kamen, verklungen sind, wenn meine drei Brüder im Bett liegen und wir noch ein paar Stunden im Wohnzimmer sitzen. Im Ofen knistert das Feuer, die große Hängelampe verbreitet einen warmen Schein. Draußen schlägt ab und zu ein Hund an – fern rollt noch ein Wagen vorüber. So verebbt das Hasten und Treiben des Tages – ein Alltag in Gunsleben klingt aus.

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