Gunslebens Postbote

Eine fiktive Geschichte von Dieter Pfusch

 

Er spricht ein sehr gutes Deutsch, beinahe ein richtiges Beamtendeutsch. Aber er ist kein Beamter, er ist Angestellter. In dieser Republik gibt es keine Beamten.

Anstellen wird aber großgeschrieben, das weiß ein jeder: Beim Bäcker, beim Fleischer, beim – nein, beim Theater nicht. Das gibt es in dem Ort nicht, in dem Ernst Horneffer lebt und arbeitet. Da müsste er schon bis Halberstadt gefahren werden, mit einem Bus, denn Ernst Horneffer hat kein Auto.  Jahrelang wurde er dorthin gefahren und - ging ins Theater, ohne anstehen zu müssen. Bis das Fernsehen in die gute Stube kam.

Ernst Horneffers Gundeslebbe, eine 600-Seelen-Gemeinde, liegt hart an der Grenze zu Niedersachsen, im Osten also. „Eiserner Vorhang“ ist diese Grenze schon seit 1945, als ein Brite, dick und mit Zigarre im Mund, sie so bezeichnete. Dieser „Eiserne Vorhang“ grenzt das Land nach Osten ab, oder nach Westen. Je nachdem, wohin es den Bürger verschlagen hat, im Leben oder durch Flucht und Vertreibung. Er teilt einen ganzen Kontinent. „Zone“ wird das Land genannt, besonders von jenen, die nicht in dieser „Zone“ leben, von Politikern, selbst vom großen und kleinen Mann. Von denen die hier zu Hause sind nennen es die meisten DeDeEr.

„Zone“ ist es nur für die, die nicht in diesem Land leben wollen, die sich der Gefahr aussetzen, sich die Finger zu verbrennen, nicht nur die Finger, beim Raus-kommen-wollen. Denn hier ist diese Grenze dicht, schon seit 1952 – überall im Westen der DeDeEr, nur nicht in Berlin.

Ernst Horneffer lebt plötzlich auch in einer Zone, einer Sperrzone, verriegelt und verrammelt im 5-Kilometer-Sperrgebiet. Nach 1952 war es gefährlich, die Grenze zu überwinden. Lebensgefährlich wurde es, nach dem 13. August 1961, als man diese Grenze massiv sicherte, Selbstschussanlagen installierte und Minenfelder angelegte, von der DeDeEr, an ihrer westlichen Grenze. Auch in Berlin war diese Grenze plötzlich dicht, eine Mauer wurde gebaut.

Ernst trägt Uniform, wie seine Vorgänger seit Urvaters Zeiten. Wie sie hat er die Aufgabe, Papiernes - welches vorher mit dem Namen des Empfängers und einer Briefmarke versehen und irgendwo in der Welt in einen Kasten geworfen, danach mit einem Hammerstempel geschlagen, sortiert und transportieret und wieder sortiert wurde - an einen ganz bestimmten Empfänger zu übergeben.

Ja, Ernst Horneffer ist Postbote. Er schleppt aber nicht nur Briefe mit sich herum, in seiner riesigen schwarzen Umhängetasche, die mit einem riesigen ledernen Deckel versehen wurde, nein, - auch Zeitungen: Das Zentralorgan für die Genossen und die Volksstimme für das einfache Volk. Die große schwarze Klappe schützt sie vor Sturm und Regen! Und Päckchen, auch von „drüben“, für die es immer etwas Besonderes gibt: Trinkgeld oder zwei, drei Ernte 23.

Am Brief erkennt er, was er für eine Miene aufsetzen muss: Trägt der Brief einen schwarzen Rand, muss er traurig dreinschauen, ganz gleich, ob er in ein Trauerhaus geht oder von irgendwo ein schwarzumrandeter Brief mit einer traurigen Nachricht kommt, weil irgendjemand verstorben ist. Aber ihm ist schon traurig zumute, wenn er in ein Trauerhaus kommt, hat er doch das Leben des Verstorbenen bei seinen täglichen Besuchen beinahe lebenslang begleitet. Er weiß also von langem Leiden oder ist überrascht von einem plötzlichen Tod.Und er ist innerlich noch von Traurigkeit gezeichnet, wenn er gleich nebenan Nachricht von einem freudigen Ereignis überbringt. Er weiß es nicht aus dem Brief, denn diese Nachricht ist für ihn verschlossen. Postgeheimnis – Briefgeheimnis.

Nur andere haben sie vielleicht vorher schon gelesen. Am schönsten geht es aber bei Festen zu, bei Hochzeiten: Hm - ein, zwei Schnäpschen. Für eine Tasse Mokkafix, - vielleicht sogar Jakobskaffee? - ist es noch zu früh. Schön wäre es ja. Aber- aber! Jugendweihe oder Konfirmation, viele Karten, reichlich Arbeit – aber auch viel Alkohol.

Da kommt er schon mal betütert in der Poststelle an, wenn er seine schwarze Umhängetasche wieder abliefern muss. Und zu Hause – Ärger mit der Frau? Gott bewahre, die ist schon vor Jahren verstorben. Ernst Horneffer ist Witwer. Die meiste Zeit des Jahres ist aber rauher Alltag, bei Wind und Wetter raus. Regenschirm? Nein, die Schirmmütze muss reichen. Vielleicht spendiert die Obrigkeit einmal einen Regenumhang?

Inzwischen ist Ernst Horneffer Rentner, dürfte sich sogar Pensionär nennen, wären die Zeiten besser. Man braucht ihn nicht mehr. Wen interessiert noch das Päckchen von „drüben“ - sie sind jetzt alle drüben, wie die, die einst türmten. Und die Westzigaretten, die er geschenkt bekam, wenn er ein solches Päckchen brachte? Die muss er sich jetzt selber kaufen. Mit dem Aufdruck „Rauchen kann tödlich sein“. Wenn er es sich überhaupt leisten kann, denn die Zigaretten sind verdammt teuer geworden.

Briefe – wer schreibt heute noch Briefe? Wo man doch telefonieren kann, mit einer Flatrate, rund um die Uhr, rund um die Welt. Von jedem Ort, selbst vom Örtchen zu jedem Ort. Man ist mobil, auch wenn man nicht mehr laufen kann.

Die Post bringt heute eine Frau im gelben Pkw aus dem viele Kilometer entfernten Badelebbe, kein Schwätzchen, kein Schnäpschen, keine Zeit. Sie hat noch fünf weiter Orte zu betreuen. Der Mann mit der Bildzeitung ist viel früher da, mit einem anderen Auto, auch er hat keine Zeit.
Das Zentralorgan gibt es nicht mehr, ist jetzt eine Sozialistische Tageszeitung! Gundeslebbe, heute kaum noch 300 Seelen, die wenigen jungen Leute fahren weit nach Niedersachsen hinein zur Arbeit. Wenn sie starten, hat der Tag noch nicht richtig begonnen, und spätabends fallen sie müde in ihr Bett.

Gundeslebbe, keine Kneipe, kein Bahnhof, kein Kindergarten, keine Schule. Kein Bäcker? Kein Fleischer? - Doch, die kommen mit dem Auto vorbei. Ein paar hungrige Mäuler stehen wieder Schlange, und wenn er nicht bereits verstorben wäre, vielleicht auch Ernst Horneffer.